Privilegiert sein, heißt weggehen können, wenn es kritisch wird

Bericht von Tabea Schünemann (SiMO-Teilnehmerin)

Das SiMO-Studienjahr konnte in den letzten Jahren leider nur selten stattfinden. 2023 sah es eigentlich gut aus, eine kleine Gruppe von Studierenden konnte entsandt werden und lebte sich schnell in Beirut ein. Doch dann griff am 7. Oktober die Hamas Israel an und die Region versank im Chaos der Eskalationsspiralen. In ihrem Bericht beschreibt Tabea, wie sie die Ereignisse wahrgenommen hat.

[…]  So begann ich Anfang September das Studienjahr mit drei anderen Studierenden aus Deutschland und fühlte mich schnell an der Near East School of Theology (NEST) zuhause. Dort studieren Menschen nicht nur zusammen im schönen Viertel Hamra evangelische Theologie, sondern wohnen, essen, beten, feiern – kurz, leben miteinander. Das geteilte Leben steht im Mittelpunkt, sei es im Seminarraum, auf der Terrasse bei einer Kaffeepause oder auf dem Volleyballfeld. Um diese kleine gemeinschaftliche Insel herum summt und brummt die Millionenstadt Beirut, die wir aufgeregt erkundeten. Auch der sonstige Libanon hat einiges zu bieten und so waren wir bereits in den ersten Wochen viel unterwegs; wandern, am Meer oder beim leckeren Mezze-essen.

Doch so schön und vielfältig der Libanon auch ist, so Krisen geschüttelt ist auch dieses Land, inmitten einer instabilen Region. Als wären die anhaltende Wirtschaftskrise, Inflation, Korruption und das dysfunktionale politische System, die Situation der Geflüchteten und die allgemeine Hoffnungslosigkeit nicht schon genug, erschütterte am siebten Oktober ein brutaler Angriff der Hamas auf Israel die Welt und den Libanon. Die israelische Armee startete schnell eine Offensive auf den Gazastreifen und auch die Gewalt in den palästinensischen Autonomiegebieten nahm und nimmt auch aktuell weiter zu. Sofort stellte sich die Frage: Was heißt das für den Libanon; wie wird die Hisbollah und der Iran reagieren? Was heißt das für unseren Aufenthalt? Es folgten für uns einige Tage voller Anspannung und Ungewissheit sowie insgesamter Betroffenheit über die grausamen Bilder aus Israel, dem Westjordanland und Gaza, aber auch Mitgefühl mit meinen neuen libanesischen Freund*innen. Diese musste ich schließlich schweren Herzens zurücklassen, als mehrere verantwortliche Instanzen uns zum Ausreisen zunächst ermutigten und schließlich aufforderten. Zu ungewiss, wie es weiter gehen würde. Während ich diese Zeilen aus sicherer Entfernung schreibe, eskaliert der Krieg im Nahen Osten immer weiter. So bin ich in Gedanken auch Monate nach meiner viel zu frühen Rückkehr Mitte Oktober immer wieder bei diesen wunderbaren Menschen, die ich dort kennenlernen durfte und bei all den Betroffenen.

Für mich persönlich folgten nach meiner Rückkehr Wochen voller großer Fragezeichen und Trauer über diesen unerwarteten und schmerzhaften Abbruch meiner Zeit in Beirut. Gleichzeitig studierten wir aber zunächst online zumindest unser erstes NEST-Semester zu ende und konnten so zumindest inhaltlich noch einiges mitnehmen. Wir besuchten einen Arabisch-Kurs, diesen sogar noch ein zweites Semester im Anschluss, weil die Lehrerin es so gut verstand, mit Witz und Leichtigkeit das alltäglich gesprochene Libanesisch wirksam zu vermitteln. Auch vom Kurs zu den Ostkirchen profitierte ich sehr. Meine Beschäftigung mit Islam im Rahmen des Semesters ermöglichte mir sogar, aus dem dortigen Kontext ein Thema für eine religionswissenschaftliche Hauptseminararbeit für meine Heimatuniversität Heidelberg zu finden, an der ich mit großem Interesse schrieb. So bleibt insgesamt ein Gefühl eines fruchtbaren Semesters und auch auf das in den wenigen Wochen Erlebte blicke ich dankbar zurück.

Ich lernte in dieser Zeit auch, was es bedeutet, privilegiert zu sein, nämlich: einfach weggehen zu können, wenn es zu kritisch wird. Und immer eine weitere Option zu haben. So erhielten wir vier Studierende von Brot für die Welt das Angebot, spontan unsere zweite Stipendienhälfte für das sog. Ökumene-Semester in Sibiu, Rumänien zu verwenden. So blicke ich nun auf ein sehr prägendes und intensives Studienjahr zurück. Es ist auch ein Jahr voller Gleichzeitigkeiten. Ich bin gleichzeitig traurig über meine frühzeitige Rückkehr aus Beirut und deren Umstände, aber auch dankbar für meine Zeit dort und vor allem für die spontan geöffnete Tür in ein weiteres buntes, schönes, interessantes Land. Ich bin mir sicher, dass ich mein Leben lang von diesen reichen Erfahrungen zehren werde. Die Zeit hat meinen Horizont erweitert und mein Studium bereichert, mich auf viele Themen aufmerksam gemacht, mich für kirchliche und globale Machtstrukturen sensibilisiert, mich über mich selbst lernen lassen, mich neue Sprachen, Kulturen und Menschen kennenlernen lassen und mich neue Impulse, Freund*innen und Verbindungen in alle Welt finden lassen. Ich freue mich zu spüren, dass Herz und Verstand weit genug für all dieses sein können und danke an dieser Stelle Brot für die Welt für diese Möglichkeiten.

Der lange fortgesetzte Austausch half der Gruppe dabei, das Erlebte zu verarbeiten und zu integrieren. Daraus entstand auch die Idee für die SiMO+1 Map, eine virtuelle Aufbereitung der verschiedenen entstandenen Texte. Sie ist sukzessive gewachsen und lädt die Lesenden dazu ein, sich auf die inneren und äußeren Reisen der Gruppe einzulassen. So werdet Ihr nicht nur in die Welt des Libanon mitgenommen, sondern auch in die Herkunftsländer Deutschland und Norwegen, und 4. das 2. Semester verbracht hat. HIER geht es zur interaktiven SiMO+1 Map mit allen Textender Gruppe.

Ende 2024 starteten Silke Schmidt und Tabea Schünemann ein weiteres Online-Publikationsprojekt – das “Lebanon Poetry Project”. Hier trugen Autor/innen aus der ganzen Welt Gedichte und Essays zum Libanon bei, darunter auch die langjährige Pfarrer/in der deutschen Gemeinde Friederike Weltzien. Die Textsammlung mit einem Vorwort von Rima Nasrallah von der NEST findet sich HIER